die.jägerburg - Integrierte Angebote
für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
www.jaegerburg.de

Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

Kriterien gestörten Verhaltens
Von der Störung zur Diagnose
Wege zur Therapie - Schritte

 

 

Graham Holt lebt allein mit seinem pflegebedürftigen Vater als Posthalter in einer kleinen englischen Stadt. Eines Tages entschließt er sich, den 10-jährigen verhaltensauffälligen James zu adoptieren. Im Kinderheim schauen sie gemeinsam Fotoalben und James Heimtagebuch an.

Second Best
ein Film von
Chris Menges

 

Graham: It is more disturbing than exciting.
James: That's what they say I am: disturbed!
Graham: What do you say?
deutsch:
Graham: Es ist eher verstörend als aufregend.
James: Das sagen sie von mir: verstört!
Graham: Und was sagst Du dazu?
aus dem Film "Second Best" - in Deutschland "Probezeit" - mit Chris Cleary Miles (James) und William Hurt (Graham Holt).

 

Von der Normalität und vom Gestörtsein

Was ist normal und was ist gestört? Im Alltag wissen wir unbewusst ziemlich genau, was normal ist und was nicht. Aber wenn wir darüber nachdenken: Was macht die Normalität eigentlich aus? Und ist wirklich alles gestört, was von ihr abweicht?

In Wörterbüchern wird normal einfach als "der Norm entsprechend" erklärt - "so beschaffen, wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, das Richtige vorstellt" (Duden Deutsches Universal Wörterbuch). Wie aber sieht in unserer Gesellschaft die allgemeine Meinung über Kinder aus? Und wie ist mein Kind eigentlich genau "beschaffen"?!

Mein übliches Kind


Mein besonderes Kind


Normalerweise ist mein Kind unruhig. Seit es gehen kann, ist es immer unterwegs. Es ist laut. Es ist häufig wütend und beleidigt. Mit meinem Kind hat man dauernd Ärger - nicht nur ich, sondern auch die Nachbarn, die Lehrer, sein Bruder. Normalerweise kann es keine 10 Minuten ruhig dasitzen und einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen. Außer es schaut Fernsehen. Da gibt's allerdings auch selten ein sinnvolles Programm. Wenn es darauf ankommt, kann mein Kind auch normal sein. Das ist dann aber auch was Besonderes ...

 

Doch meine Mutter war nicht beruhigt.
Sie habe schon immer gewusst, sagte sie zu Doktor Santens, dass ich nicht normal sei.
Sie habe schon immer geglaubt, dass ich anders sei als andere Kinder. Sie habe... Nachdem sie einmal damit angefangen hatte, war meine Mutter nicht mehr zu bremsen. Sie zählte die Liste der Dinge auf, die ihr schon immer an mir aufgefallen waren. Sie ließ nichts aus, obwohl Doktor Santens alles längst wusste.
Das konnte lange dauern.

Willy van Doorselaer
Ich heiße Kaspar
Carl Hanser (1995) S.9

 

Niklas hat viele Schwächen. Aber er hat auch liebenswerte Züge - und besondere Talente. Er ist sehr schlau, nicht nur geschickt. Er versteht die Menschen, v.a. andere Kinder. Er kann sich in ihre Situation hineinversetzen. Er kann die Perspektive von anderen einnehmen, auch wenn er das oft nicht konstruktiv nutzt. Ab und zu hilft er, besonders dann, wenn niemand es erwartet. Er hat mehr Kraft als alle anderen in der Familie zusammen: mehr Energie, etwas zu tun, seine Ziele zu verfolgen. Er ist nicht kreativer als andere Kinder, aber er versucht mehr. Sein Gefühl für Gerechtigkeit ist nicht ungewöhnlich, aber sein Einsatz für die Rechte von anderen ist groß. Er hat so viele Probleme und ist doch so leicht zum Lachen zu bringen. Vielleicht das Wichtigste, das Besondere an ihm: Er gibt nicht auf. Dabei hätte er so oft Grund dazu ...

 

Anderes Verhalten

Bei der Untersuchung und Diagnose einer kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung sind Eltern, Psychologe und Facharzt stets gefordert, das Andere im Verhalten des Kindes genau zu erfassen. Es genügt nicht, auffälliges Verhalten einfach zu beschreiben, denn Auffälligkeit ist subjektiv. Wir sehen nur, was wir uns anschauen. Eigentümliche Verhaltensweisen kennzeichnen nicht allein eine Person, sondern auch ihre Umwelt. Dabei geht es weniger um die Ursache bestimmten Handelns als vielmehr um die Wahrnehmung der Handlungen.

Stellen wir uns eine Familie vor, in der seit mehreren Generationen einzelne Familienmitglieder Tics haben, d.h. unwillkürliche verbale oder motorische Äußerungen bzw. Bewegungen machen. Dabei zeigt die Mehrzahl der Angehörigen keine entsprechende Auffälligkeit. Dennoch werden die eigentümlichen Lautäußerungen und seltsamen Bewegungen der betroffenen Familienmitglieder als Teil der Familiengeschichte im Gedächtnis behalten. Weißt Du noch, als Onkel Theo bei Pauls Hochzeit ihm gratuliert hat. Alles Gute - fick dich! - und viel Spaß auf der Hochzeitsreise. 

Stört Sie das "Fick dich!" an dieser Stelle der Homepage? In einer Familie mit Personen, die an der Gilles-de-la-Tourette-Störung leiden, beachtet man eine solche Äußerung meist gar nicht mehr. Obwohl das Gehirn der Tourette-"Erkrankten" offensichtlich gerade Impulsen nachgibt, die unerwünschte Verhaltensweisen anstoßen, verliert die "Krankheit" im Alltag der Betroffenen und ihrer Umwelt den Stellenwert des Besonderen. Sie wird zu einem Teil der Persönlichkeit - zumindest aus der Sicht der Partner, Geschwister und Kameraden, die den Betroffenen oft nur mit mehr oder weniger offensichtlichen Tics kennen. Vielleicht verliert so auch der nicht tic-gestörte Freund bisweilen die Hemmung vor dem Gebrauch der Fäkalsprache. Da er diese Wörter häufig hört und natürlich kaum jemand im Umfeld des Betroffenen sich in einer beständigen sinnlosen Kritik daran übt, tritt die übliche offene Empörung in den Hintergrund. Die besondere Wahrnehmung des Besonderen schwindet. Das heißt nicht, dass die Tics nicht als anderes Verhalten bemerkt werden. Für die Mutter eines Tourette-Kindes haben sie aber eine andere Bedeutung als für einen Lehrer oder den Passanten in einer Fußgängerzone. Auch wenn Tourette eine recht genau zu umschreibende Störung darstellt, so zeigt es seine unterschiedlichen Gesichter doch in der unterschiedlichen Anschauung der Umwelt eines Betroffenen.

 

 

Er schlug meine Hand beiseite. "Regen Sie sich ab, Alibi. Was ist mit Ihnen?"

"Tourette-Syndrom", antwortete ich im verbitterten Ton der Unentrinnbarkeit. Tourette war mein zweiter Name, und wie bei meinem richtigen Namen konnte mein Gehirn auch diese beiden Wörter nicht unangetastet lassen. Sogleich  produzierte ich mein eigenes Echo: "Tourette ist der Shitsohn!" Nickend, schluckend, zuckend, versuchte ich mich selbst zum Schweigen zu bringen, schritt schleunigst auf den Sandwichladen zu und hielt meinen Blick gesenkt, damit der Detective außerhalb meines Schulterradars blieb. Was auch nicht gut war, denn ich übertrieb, und als ich wieder ticte, artete es in Gebrüll aus: "Tourette ist der Shitsohn!"

"Er ist der Shitsohn, he?" Der Detective dachte anscheinend, wir würden gerade in super-heißem Straßenslang reden. "Kannst du mich zu ihm bringen?"

"Nein, nein, es gibt keinen Tourette", sagte ich nach Luft ringend. Ich war verrückt vor Hunger, verzweifelt darauf aus, den Detective abzuschütteln und wie gelähmt aus Angst vor weiteren Tics.

"Machen Sie sich keine Sorgen", sagte der Detective, um mich zu beruhigen. "Ich werde ihm nicht erzählen, wer ihn verraten hat."

Er dachte wirklich, er würde einem Singvogel schmeicheln. Ich konnte nur versuchen, nicht laut zu lachen oder loszuschreien. Sollte Tourette ruhig der Hauptverdächtige sein, wenn ich meinen Hals aus der Schlinge ziehen konnte.

Jonatham Lethem
Motherless Brooklyn
Tropen-Verlag (2001) S.135

Eine Störung sehen

 

Als kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung bezeichnen wir einen Zustand unwillkürlich gestörter Lebensfunktionen, der durch Beginn, Verlauf und gegebenenfalls auch Ende eine zeitliche Dimension aufweist und ein Kind oder einen Jugendlichen entscheidend daran hindert, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und diese zu bewältigen.

Helmut Remschmidt
zitiert nach: Franz Resch
Entwicklungspsychopathologie
des Kindes- und Jugendalters

Beltz PVU (1996) S.33f.

Die Subjektivität der Wahrnehmung, welche für das Tourette-Syndrom gilt, ist bei der Betrachtung jeder kinder- und jugendpsychiatrischen Störung von Bedeutung. Stets handelt es sich um Störungsbilder, die ein festes Syndrom darstellen, d.h. eine Gruppe von Empfindungen und Verhaltensweisen, die in der beobachteten Einheit für eine bestimmte Störung typisch sind. Nicht selten kann man für ein solches Syndrom heute bereits biologische Zusammenhänge benennen. Diese "natürlichen" Faktoren einer psychiatrischen Auffälligkeit sind zwar selten einfach zu verstehen und eindeutig in ihren Auswirkungen. Sie heben die meisten bekannten Störungsbilder jedoch über eine willkürliche Abgrenzung von einer ebenso willkürlich festgestellten Normalität hinaus.

Kritiker der Psychiatrie und ihrer Krankheitslehre führen gegen die Störungsbilder in den heute gebräuchlichen Diagnose-Manualen (Deutschland: ICD-10) häufig ins Feld, die beschriebenen Symptome seien mehr oder minder ungenau und daher in vielen alltäglichen Situationen zu beobachten. Diese Sichtweise unterlässt meist einen vergleichbar kritischen Blick auf die Bedingungen der eigenen Wahrnehmung, die nicht weniger subjektiv und ungenau ist. Dem vermeintlich großzügigen Störungsbegriff der Psychiatrie wird so eine ebenso großzügige Auslegung der Normalität gegenüber gestellt. Dies nicht selten umso leichtfertiger, als mancher Kritiker mit den Auswirkungen gestörten Verhaltens im Alltag nicht konfrontiert ist.

Schließlich geht es der Psychiatrie als einem medizinischen Fach nicht um eine letztgültige Erklärung von Verhalten, sondern um den Umgang mit Verhaltensweisen, welche die individuelle Entwicklung und das Leben in der Gemeinschaft behindern. Ein hyperaktives Kind ist auch dann impulsiv und unruhig zu nennen, wenn es in einer Umwelt aufwächst, die sich daran nicht stört. Eine derartige "Unempfindlichkeit" der Mitmenschen kann von Vorteil sein, insoweit sie auffälliges Verhalten nicht mit Aufmerksamkeit belohnt und fördert. Gleichgültigkeit gegenüber dem eigentümlichen Verhalten oder gar Leugnung einer Störung können aber auch den Blick auf die anderen Anforderungen in einer anderen sozialen Umgebung verstellen. Ein Verhalten, das in der Familie noch tragbar erscheint, verhindert aufgrund mangelnder Anpassung in der Schule vielleicht den notwendigen Lernfortschritt. Weder Toleranz noch Empfindlichkeit, weder Erfolg noch Scheitern im Umgang mit Auffälligkeiten sind jedoch ein Beweis für oder gegen das Vorliegen einer psychiatrischen Störung!

 

Kriterien gestörten Verhaltens

Genauso wie die normale Entwicklung
ist die abweichende Entwicklung ein selbstorganisierendes Phänomen, dessen endgültiger Ausgang jedoch in einem bedeutenden Grad fehlorganisiert ist.
Dies bewirkt, dass ...

... die Ausbildung neuer Strukturen
und Funktionen behindert,
... die Form anderer, später
erscheinender verzerrt,
... die Konstruktion von sonst nicht auftretenden ermöglicht und/oder
... die Ausbildung und der Gebrauch
vorher entstandener begrenzt wird.

Petermann/Kusch/Niebank
Entwicklungspsychopathologie
Beltz PVU (1998) S.42

Jede kinder- und jugendpsychiatrische Störung ist durch eine Gruppe von Symptomen, d.h. in ihrem gemeinsamen Auftreten typischen Merkmalen der Person, ihrer Wahrnehmung, ihres Empfindens und ihres Verhaltens definiert. Eine zuverlässige Diagnose erfordert also den genauen Abgleich der kindlichen Verhaltensweisen mit verschiedenen Listen an Beschreibungen von Verhaltensmustern. Einzelne Symptome können in mehreren Störungsbildern vorkommen. Erst das Syndrom, d.h. eine bestimmte Einheit von gemeinsam auftretenden Symptomen, begründet eine Diagnose.

Unabhängig von den Details eines umschriebenen Störungsbildes gibt es übergeordnete Kriterien gestörten Verhaltens von Kindern und Jugendlichen. Sie bezeichnen keine psychiatrische Störung an sich, sondern sind die Voraussetzung eines Begriffs von abweichendem, gestörtem Verhalten.

 

Anna hat Angst. Sie fürchtet sich vor dunklen Räumen, Hunden, Krankheiten, Schulproben. Ihre Freundinnen verstehen sie nicht: der Keller im Mietshaus sei doch nicht unheimlich, des Nachbarn Hund ein liebenswerter Spielkamerad, jede bedrohliche Krankheit fern und Anna eine gute Schülerin. Aber Anna schafft es nicht, draußen mit ihren Freundinnen zu spielen. In der Schule lähmt sie die Angst, obwohl sie im Grunde alles weiß und ihre Eltern kaum Wert auf gute Noten legen. Natürlich sieht Anna ein, dass sie keinen Grund hat, irgend etwas zu fürchten, und dennoch hat sie jede Freude an ihrem Leben verloren. 1.

 

Einschränkung

das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen schränkt es bzw. ihn ein,
- aktuell so zu empfinden und/oder zu handeln, wie es für sein Alter und seine Lebensumstände üblich ist;
- Fähigkeiten und Fertigkeiten alters- und situationsgemäß nach eigenem Willen einzusetzen;
- Leistungspotentiale ohne besondere Förderung zu nutzen;
- seine Lebenssituation und/oder seine Zukunftsperspektive zu schätzen

 

Alexander lacht eigentümlich. Auf Menschen, die ihn nicht kennen, wirkt das laute Lachen künstlich und ein bisschen provokativ. Egal, was man von ihm wissen möchte - er kommt sofort auf sein Lieblingsthema: Autos. Wenn man ihn überrascht, wird er wütend. Bereits zwei Minuten nach einem vereinbarten Termin geht er ungeduldig wartend den Flur auf und ab, gestikuliert mit den Händen und zittert schließlich am ganzen Körper. Er kann es nicht ertragen, wenn Besuch kommt und die Sitzordnung am Esstisch verändert wird. Manchmal erzählt er die gleiche Geschichte fünfmal hintereinander. Dabei bemerkt er nicht, dass andere sich langweilen oder widersprechen. 2.

 

Isolation

das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen löst es bzw. ihn aus wichtigen sozialen Bezügen (Familie, Schule, etc.) heraus, sei es, weil
- andere das gestörte Verhalten und/oder die Person nicht akzeptieren;
- andere das gestörte Verhalten nicht verstehen und dieses Verhalten daher eine Kommunikation mit der Person erschwert oder gar verhindert;
- das gestörte Verhalten die Person daran hindert, sich soziale Bezüge zu erschließen und/oder sich innerhalb dieser Bezüge verständlich zu machen

 

Robert kann sich durchsetzen. Er ist der Jüngste von vier Brüdern. Sein Vater ist Alkoholiker und in Frührente. Seit der Älteste aus dem Haus ist und die beiden Mittleren im Heim leben, kriegt Robert die Schläge ab. Das macht ihm aber nichts aus, denn er hat Wege gefunden, sich an seinem Vater zu rächen, indem er ihn beklaut und den Hund quält. Außerdem kann er in der Schule machen, was er möchte, denn aus seiner Familie geht eh niemand zum Elternabend. Ab und zu nimmt ihn sein Vater mit ins Stadion. Dann brüllen sie gemeinsam die gegnerischen A... nieder. Und wenn einer von denen aufmuckt, dann gibt's eine aufs Maul. Heimlich, so denkt er manchmal, muss sein Vater doch stolz auf ihn sein. 3.

 

Dysfunktionalität

das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen stellt eine Behinderung seiner angepassten Entwicklung dar, indem es Aufgaben und Ziele der Entwicklung verändert, entwertet und/oder aufgibt bzw. unpassende oder unrealistische Aufgaben und Ziele nahe legt; damit ist nicht gesagt, dass das gestörte Verhalten für das Kind und seine Umwelt ziellos und ohne Sinn ist, wohl aber, dass es angesichts der absehbaren Lebensbedingungen in der Zukunft bestimmend und zugleich von Nachteil sein wird

 

Stephanie hasst ihr Gehirn. Sie bekommt den Gedanken, dass ihrer Mutter oder ihrem Vater etwas zustoßen könnte, nicht aus dem Kopf. Und das Schlimmste: Sie denkt ständig, sie könnte diejenige sein, die plötzlich Lust hat, die eigenen Eltern zu ermorden. Mittlerweile zwängt sie ihren Tag in ein festes Schema an Dingen, die sie tun muss, damit der schreckliche Gedanke nicht wahr wird. Dass sie ihre Eltern liebt, empfindet sie nicht als Entlastung. Darauf kann sie sich nicht verlassen. 4.

Leidensdruck

das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen bedeutet für es/ihn selbst und/oder seine Umwelt eine spürbare Beeinträchtigung der Lebensqualität; diese Beeinträchtigung wird als unerwünscht, schmerzhaft und der eigenen Lebensplanungen entgegengesetzt erlebt

 

Von der Störung zur Diagnose

Es gibt eine Reihe einfacher Fragen, die Sie sich stellen können, wenn Sie hinter dem auffälligen Verhalten eines Kindes eine psychiatrische Störung vermuten. Ihre Antworten auf diese Fragen ersetzen freilich nicht die Diagnose durch einen Facharzt und Psychologen.

 

   
Fällt das infrage stehende Verhalten des Kindes nur mir auf?

Wenn ja: Bin ich die/der Einzige, der in den Situationen, in welchen das Kind das auffällige Verhalten zeigt, bei ihm ist? Zeigt das Kind das auffällige Verhalten bewusst nur mir und/oder begünstige ich durch mein Verhalten bzw. meine Reaktionen auf die Auffälligkeit das Verhalten des Kindes?
Wenn nein: Sind andere, welche das auffällige Verhalten des Kindes sehen, in der gleichen Situation wie ich? Habe ich sie auf die Auffälligkeit angesprochen oder wurde sie mir spontan von anderen berichtet? Beschreiben andere wirklich die gleiche Auffälligkeit, die ich sehe?

 

David ist unruhig. Er hampelt ständig rum, vor allem beim Essen. Er geht mir manchmal so auf die Nerven! Wenn ich ihn schon sehe, wie er isst: den Mund voll, das Glas in der Hand und immer plappernd und gestikulierend. Ich ahne die Katastrophe, da schwappt die Milch auch schon über, der Honig tropft auf die Tischdecke, irgendwas schmeißt er immer um. Ich mag David, aber wenn das Leben nur aus Mahlzeiten bestünde, hätte ich ihn schon erschlagen ... Die Eltern seines besten Freundes haben sich bislang noch nicht beklagt. Eigentlich seltsam. Vielleicht benimmt er sich dort ja anders?
Inwiefern ist das infrage stehende Verhalten auffällig?

Ist das Verhalten des Kindes auffällig verglichen mit
- früherem Verhalten des Kindes in vergleichbaren Situationen?
- Verhalten von anderen Kinder im gleichen Alter und in vergleichbaren Lebensbedingungen?
- Verhalten, das ich von einem Kind in seinem Alter und angesichts seines sozialen Hintergrundes erwarte?
In welchen Bereichen ist das Verhalten des Kindes auffällig?
- in seiner Wahrnehmung, d.h. scheint das Kind seine Umwelt nicht in gleicher Weise zu sehen und zu begreifen wie andere? (welche anderen?)
- in seinen Handlungen, d.h. verhält es sich anders (als wer?), unerwartet, unverständlich, unsinnig, zu seinem eigenen Nachteil (gesehen aus wessen Perspektive?), mit gefährlichen Konsequenzen?

 

Irgendwie kommt mir Katharina in letzter Zeit verändert vor. Eigentlich war sie schon immer eher ein stilles Mädchen. Dann hat sie sich noch mehr zurückgezogen, verkroch sich den ganzen Tag in ihr Zimmer und wollte mit niemandem reden. Jetzt ist es plötzlich umgekippt. Egal, worauf man sie anspricht - sie schreit einen an, macht allen Vorwürfe, geht keinem Streit aus dem Weg. Erst dachte ich, dass das mit der Pubertät zusammenhängt. Das sagen einem doch immer alle zur Beruhigung, die kriegt sich schon wieder ein, das ist nur eine Phase. Auch in der Schule ist sie verändert, sagt die Lehrerin. Mal sitzt Katharina geistesabwesend da, dann lacht sie unvermittelt oder bricht in Tränen aus. Früher, ja da war sie still, aber sie machte keinen unglücklichen Eindruck. Heute verhält sie sich anders, irgendwie künstlich und unerreichbar.
Welche Gründe gibt es aus meiner Sicht für das infrage stehende auffällige Verhalten des Kindes?

Ist ein Grund für das auffällige Verhalten erkennbar? Sehe nur ich diesen Grund oder benennen ihn (spontan) auch andere? Kann das Kind einen Grund für sein Verhalten nennen? Macht der für mich oder andere erkennbare Grund Sinn? Wie reagiert das Kind, wenn ich es mit meinen Mutmaßungen zum Grund seines Verhaltens konfrontiere? Ist es für mich, andere oder das Kind selbst entlastend, einen Grund für das auffällige Verhalten zu wissen? Ist der Grund, den ich sehe, attraktiv, weil er mich (meinen Erziehungsstil, mein Verhalten, meine Familiengeschichte) entlastet?

 

Ich verstehe Sophie einfach nicht. Sie ist doch so begabt! Und eigentlich war sie in der Schule nicht schlecht. Vielleicht hätte sie etwas mehr lernen sollen, aber wegen der 5 in Mathe hätte sie das Gymnasium nicht hinschmeißen dürfen. Mein Mann und ich, wir sind nicht kleinlich, was die Schule anbelangt. Das waren wir auch bei Sophies Schwester nicht, und die hat das Abitur schließlich auch gemacht. Aber bei Sophie weiß man nie, was sie möchte. Wir waren bei diesem Psychologen, der auf Rechenschwäche spezialisiert ist. Er hat Sophie getestet und eine Therapie vorgeschlagen. Er hat gesagt, dass Sophies Selbstwertgefühl unter den Lernschwierigkeiten gelitten habe und dass man das in der Therapie auch behandeln könne. Ich fand das eine gute Idee, aber Sophie will von dem "Psycho-Scheiß" nichts wissen.
Was will ich gegen das infrage stehende auffällige Verhalten des Kindes tun?

Stört mich das auffällige Verhalten des Kindes? Will ich etwas gegen dieses Verhalten tun? Mit welchem Ziel will ich etwas dagegen tun? Wem nützt das Ziel, d.h. wer profitiert von der gewünschten Veränderung des kindlichen Verhaltens? Will nur ich was gegen das auffällige Verhalten tun oder äußern auch andere (spontan) entsprechende Wünsche und/oder Absichten? Sind meine Ziele und die Ziele der anderen die gleichen oder wenigstens vereinbar? Sehe ich das auffällige Verhalten nur, weil es mich stört? Oder sehe ich vielleicht andere Auffälligkeiten nicht, weil sie mich nicht stören? Wie verändert mein Blick auf das auffällige Verhalten meinen Umgang mit dem Kind? Wie sehe ich andere, die anders mit meinem Kind umgehen? Welche Bedeutung hat das auffällige Verhalten für meine Kontakte zu anderen? Brauche ich das auffällige Verhalten des Kindes im Umgang mit anderen, z.B. als Grund für Kontakte, im Streit mit dem Partner, auf der Suche nach Hilfe?

So kann es nicht weitergehen. Seit Monaten spricht Philipp kein Wort mehr mit mir. Eigentlich spricht er mit niemandem mehr. In der Schule lassen sie ihm das durchgehen, obwohl sein Lehrer es auch seltsam findet. Mitarbeit ungenügend, aber die Hausaufgaben macht er und die Proben schreibt er mit. Ich finde, ein Kind muss mit seinen Eltern sprechen. Er kann nicht einfach schweigen. Wir möchten ihm doch helfen, aber wenn er nicht mit uns spricht?! Angeblich hat er einen guten Kontakt zu seinem Opa, aber ich traue meinem Vater nicht. Ich weiß, dass er andere Ansichten zu Philipps Erziehung hat, aber wir sind seine Eltern, nicht Oma und Opa. Nächste Woche haben wir noch einen ambulanten Termin beim Kinder- und Jugendpsychiater. Wenn das nicht hilft, wird er stationär in die Psychiatrie aufgenommen.

 

Wege zur Therapie

 

 

 

 

 

 

Manchmal traf mein Blick den von Doktor Santens. Dann blinzelte er mir heimlich zu. Er wusste genauso gut wie ich, was meine Mutter noch alles erzählen würde. Er kannte ihre Litanei auswendig. Sein Wartezimmer war voller Patienten, aber er ließ sie einfach weiterreden, bis sie fertig war. Gute Ärzte schauen nicht auf die Uhr.

"Zum Glück ist das jetzt vorbei", seufzte meine Mutter. "Er ist zwar immer noch einen Kopf kleiner als andere Kinder von vier, aber jetzt isst er wenigstens. Nur zum Fleisch muss ich ihn noch zwingen. Und wenn man ihn Butterbrot mit Schokoladencreme essen sieht, könnte man sogar meinen, er sei normal. Aber..."

Aber. Wenn meine Mutter bei ihrem medizinischen Bericht über mich etwas Gutes sagt, kannst du darauf wetten, dass ein Aber folgt. Sie ließ eine kurze Stille entstehen, damit die Tragweite dessen, was sie nun sagen wollte, auch ganz klar wurde.

"Aber er ist oft so abwesend, Doktor."

"Na ja", sagte Doktor Santens, "das findet man oft bei Kindern. Man kann sie nicht zu Hause einsperren. Dauernd rennen sie auf die Straße. Sie wollen mit ihren Freunden spielen."

Willy van Doorselaer
Ich heiße Kaspar
Carl Hanser (1995) S.12

Ihre Einschätzung als Beobachter des Kindes ist entscheidend. Wenn Sie als Eltern, Lehrer oder Erzieher, die Sie im Alltag mit dem Kind umgehen, seine Verhaltensauffälligkeiten nicht wahr- und ernstnehmen, wird das Kind keine Hilfe erhalten. Auch das fachliche Urteil von Ärzten und Psychologen muss sich im wesentlichen auf Ihre Aussagen stützen, denn Sie kennen die Persönlichkeit des Kindes und seine Geschichte besser.

Niemand stellt seine Fehler und Probleme von sich aus zur öffentlichen Diskussion. Daher wird ein verhaltensauffälliges Kind vielleicht der äußeren Beschreibung einzelner kritischer Verhaltensweisen beipflichten und bisweilen sogar die negativen Konsequenzen seines Verhaltens eingestehen. Kaum aber wird es von sich aus um die Behandlung seines Verhaltens bitten. Meist versuchen Kinder und Jugendliche, wie wir Erwachsenen auch, aus der gegebenen Situation "das Beste" zu machen - und das heißt: mit den Problemen weiterzumachen. Die Logik einer Verhaltensstörung ist deshalb genauso zwingend und hartnäckig wie das gesunde Selbstbewusstsein, das aus positivem Verhalten und sozialer Anerkennung resultiert. So wenig wie Schwierigkeiten automatisch das positive Selbstbild einer Person angreifen, so selten führen sie zur aktiven Suche nach Hilfe.

Hilfe im Umgang mit seinem Problemverhalten erreicht ein verhaltensauffälliges Kind also nur dann, wenn andere ihm diese Hilfe antragen. In der Mehrzahl der Fälle heißt das letztlich: Sie als Eltern zwingen Ihr Kind zu Diagnose und Behandlung; Sie als Lehrer oder Erzieher regen die Eltern zu einer diagnostischen Abklärung an; Sie als Therapeuten gehen gemeinsam mit den Eltern den Gründen der von Ihnen beobachten Auffälligkeiten nach. Warten Sie nicht auf Besserung in der Hoffnung, das fragliche Verhalten "wachse sich aus". Dies tut es nur, wenn es zum einen allein auf der augenblicklichen Stufe der Entwicklung von Bedeutung ist; zum anderen ist die entscheidende Voraussetzung des Auswachsens, dass das Kind ansonsten die seinem Alter gemäßen Entwicklungsaufgaben meistert, d.h. die Auffälligkeit nicht gerade eine Behinderung der gesunden Entwicklung darstellt. Häufig ist das aber nicht so, denn die Störung gehorcht wie die Normalität eigenen Regeln, einer eigenen Logik, die sich wie jedes Leben ständig fortschreibt.

 

Erste Schritte

in der Situation von ...

Welche Schritte sind sinnvoll, wenn Sie glauben, das auffällige Verhalten eines Kindes bedürfe der Abklärung?

 

... Eltern
... Lehrern und Erziehern
... Therapeuten
Eltern

 

Klinische Psychologie:

Anwendungs- und Forschungsfeld der Psychologie, dessen Gegenstände die Entstehung, Klassifikation, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen bzw. psychischer Aspekte somatischer Störungen sind. Die Klinische Psychologie ist in Deutschland neben der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie und Pädagogischer Psychologie ein mit Vertiefungsfach angebotenes Ausbildungsfach der Diplomprüfungsordnung für Psychologen.

Wörterbuch zur Psychologie
dtv (1994) S.235

 

Kinder- und Jugendpsychiatrie:

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie umfasst die Erkennung, nichtoperative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen oder Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter.

Definition der Bundesärztekammer

 

Bitte beachten Sie:

Sowohl die Facharztausbildung des Kinder- und Jugendpsychiaters als auch die Ausbildung des niedergelassenen Psychotherapeuten sind keine Studienfächer an Universitäten, sondern in ihrer Qualität stark variierende Programme in Kliniken, Praxen und privaten Schulen.

Obschon sie kein Medizin- oder Psychologiestudium absolviert haben, arbeiten auch nach Inkrafttreten des  Psychotherapeutengesetzes 1999 in Deutschland viele approbierte Psychotherapeuten ohne einschlägige medizinische und psychodiagnostische Fachkompetenz.

Es ist richtig und wichtig, den fachlichen Fähigkeiten von Ärzten, Psychologen und Therapeuten zu vertrauen. Informieren Sie sich dennoch nach Möglichkeit durch Gespräche mit Bekannten oder Eltern anderer verhaltensauffälliger Kinder, in Büchern oder mittels Internet über die von ihnen beobachteten Eigenheiten im Verhalten Ihres Kindes. Fragen Sie sich stets kritisch, inwieweit Beschreibungen und Erklärungen dieser Informationsquellen tatsächlich auf Ihr Kind zutreffen, seriös und unparteiisch sind.

Wenn Sie sich die oben genannten Fragen gestellt haben und der Meinung sind, das auffällige Verhalten Ihres Kindes sollte durch einen Fachmann abgeklärt werden, so stehen Ihnen i.d.R. mehrere Kontaktstellen zur Verfügung.

- Erziehungsberatungsstellen: Sie gibt es in den meisten Städten unter verschiedenen Trägern wie z.B. öffentliche Hand, Kirche, Sozialverbänden oder Vereinen.

- Jugendamt / Jugendhilfe: Für Ihre Familie gibt es ein zuständiges Jugendamt, das i.d.R. auch kompetente Beratung bei Sorgen im Umgang mit dem Kind bietet; große Jugendämter unterhalten bisweilen einen ärztlich-psychologischen Fachdienst oder kooperieren mit dem entsprechenden Sozial- und/oder Gesundheitsreferat am Ort.

- Klinische Psychologen: Wahrscheinlich gibt es in ihrer Stadt bzw. Ihrem Landkreis einen approbierten, d.h. vom Staat und den gesetzlichen Krankenkassen zugelassenen Kinder- & Jugendpsychotherapeuten. Beachten Sie, dass Psychotherapie in Deutschland kein Studienfach ist, sondern an privaten Schulen gelehrt wird. Viele zugelassene Psychotherapeuten sind keine Psychologen mit klinischem Schwerpunkt; unabhängig von der therapeutischen Kompetenz ist die Diagnostik von Nichtpsychologen ohne klinisches Studium häufig unbefriedigend.

- Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie: Diese Mediziner  sind Spezialisten für die psychiatrischen Störungen des Kindes- und Jugendalters. Die Facharztqualifikation wird durch eine fünfjährige Ausbildung im Job sowie eine abschließende Facharztprüfung erworben. Nur Ärzte dürfen Medikamente verschreiben - den bei allen Vorbehalten kurzfristig oft wirksamsten Hilfsmitteln in der Behandlung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen. Leider ist der diagnostische und psychotherapeutische Teil der Facharztausbildung bescheiden und manche Praxen verfügen nicht über entsprechend qualifiziertes psychologisches Fachpersonal. Dennoch sollten v.a. bei unvermittelt auftretenden Verhaltensstörungen Kinder- und Jugendpsychiater gleich die erste Anlaufstelle sein.

- Ambulanzen in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken: Sie verbinden i.d.R. medizinische und psychologische Angebote und vereinen aufgrund des großen Anteils auch schwieriger "Fälle" bisweilen mehr Know-how an einem Ort.

- Kinderärzte / Pädiater: Obwohl hier an letzter Stelle genannt, sind sie ein guter Ansprechpartner für jede Art von Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Oft macht es Sinn, eine beobachtete Auffälligkeit des Kindes, sofern deren Behandlung nicht dringlich erscheint, zunächst im Rahmen eines Routinebesuch beim Kinderarzt anzusprechen. Dieser kennt meist nicht nur Kind und Familie gut, sondern hat im Rahmen der Facharztausbildung häufig auch Erfahrungen in der kinder- und Jugendpsychiatrie gesammelt.

 

Lehrer und Erzieher

 

Artikel 6 Grundgesetz

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

§ 1629 BGB
Vertretung des Kindes

(1) Die elterliche Sorge umfasst die Vertretung des Kindes. Die Eltern vertreten das Kind gemeinschaftlich; ist eine Willenserklärung gegenüber dem Kind abzugeben, so genügt die Abgabe gegenüber einem Elternteil.

§ 1631 BGB
Inhalt und Grenzen der Personensorge

(1) Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

§ 1631a BGB
Ausbildung und Beruf

In Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufs nehmen die Eltern insbesondere auf Eignung und Neigung des Kindes Rücksicht. Bestehen Zweifel, so soll der Rat eines Lehrers oder einer anderen geeigneten Person eingeholt werden.

Sie haben professionell mit Kindern zu tun. Der Blick von Lehrern und Erziehern auf das Verhalten eines Kindes ist verständlicherweise durch den Auftrag bestimmt. Wichtig ist für Sie letztlich das Verhalten in der Gesellschaft, - sei es die Schulklasse, eine Kindergartengruppe oder eine Heimgemeinschaft. Diese sozialen Situationen, die v.a. im Fall der Schule mit oft ungeliebten Anforderungen besetzt sind, stellen für verhaltensauffällige Kinder meist eine besondere Schwierigkeit dar. Daher sind auch Sie als Betreuer in besonderem Maße (heraus-)gefordert.

Zugleich sind Ihnen durch die Rechte des Kindes und der Erziehungsberechtigten die Hände gebunden. Jede Initiative, die eine Beurteilung des kindlichen Verhaltens durch Dritte zum Ziel hat, muss mit den Erziehungsberechtigten abgesprochen werden. Als einzige Ausnahme ist hier eine Gefährdung des Kindes oder anderer Personen durch das fragliche Verhalten anzuführen. Aber auch dann sollten Sie nur in Kontakt mit den zuständigen Behörden (i.d.R. Jugendamt, Sozialdienst oder Polizei) treten und ansonsten nichts ohne Zustimmung der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten unternehmen. 

So ist es beispielsweise nicht erlaubt, Probleme offen mit Dritten zu besprechen - vom mit dem Kind am Arbeitsplatz befassten Team abgesehen - oder in Gegenwart von weiteren Verwandten (Großmutter, Tante, etc.) und Bekannten (Eltern von Kameraden o.ä.) des Kindes zu diskutieren. Ebenso dürfen Sie nicht ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten Informationen über das Kind einholen, und sei es auch nur, um Ihre "Diagnose" und den akuten Handlungsbedarf zu untermauern. Rechtsverstöße sind auf diesem Gebiet keine Seltenheit, verbessern im Zweifelsfall Ihre Position jedoch nicht. Psychologisch macht es ohnehin wenig Sinn, die Eltern, die i.d.R. das Sorgerecht ausüben, zu umgehen, denn das Kind selbst kommt an den Eltern nicht vorbei. Ihm wird es stets besser gehen, wenn eine Lösung gefunden wird, die auch die Eltern konstruktiv einbezieht. Nur so können nämlich eine übergreifende Strukturierung des Problemverhaltens und die Loyalität des Kindes allen Beteiligten gegenüber gewährleistet werden.

Welche Maßnahmen sind also in der Position des Lehrers oder Erziehers zu erwägen?

 

An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses Geniewesen unheimlich - zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben seit alters eine tiefe Kluft befestigt, und was von solchen Leuten sich auf Schulen zeigt, ist den Professoren von vorneherein ein Greuel. Für sie sind Genies jene Schlimmen, die keinen Respekt vor ihnen haben, die mit vierzehn zu rauchen beginnen, mit sechszehn in die Kneipen gehen, welche verbotene Bücher lesen, freche Aufsätze schreiben, den Lehrer gelegentlich höhnisch fixieren und im Diarium als Aufrührer und Karzerkandidaten notiert werden. Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schweres vom anderen leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist und wer von beiden es ist, der dem anderen Teil seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu denken. Doch ist das nicht unsere Sache, und wir haben den Trost, dass bei den wirklich Genialen fast immer die Wunden vernarben und dass aus ihnen Leute werden, die der Schule zum Trotz ihre guten Werke schaffen und welche später, wenn sie tot und vom angenehmen Nimbus der Ferne umflossen sind, anderen Generationen von ihren Schulmeistern als Prachtstücke und edle Beispiele vorgeführt werden.

Herrmann Hesse
Unterm Rad (1903)
st 52 (1972) S.90f.

 

- Sprechen Sie mit den Eltern: Wenn Sie in der Schule oder einer Gruppe Probleme mit offensichtlichen Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes haben, dann haben die Eltern sie auch; je verständnisvoller Sie auf die Eltern zugehen und ihnen die Bewältigung des Problems zutrauen, desto eher werden diese ihre Schwierigkeiten eingestehen und auch einer professionellen Untersuchung des Kindes zustimmen. Einzige Ausnahme ist hier der Fall, dass Ihr Bericht absehbar zum Anlass genommen würde, das Kind in unverantwortlicher Weise zu behandeln - z.B. dass die Eltern das Kind auf Ihre Aussage hin körperlich bestrafen könnten. Raten Sie Eltern immer dazu, professionelle Hilfe zu suchen, d.h. das Kind zunächst von Fachleuten untersuchen zu lassen. Übernehmen Sie keinesfalls die Erziehung des Kindes, indem Sie in die Rolle des "besseren Betreuers" schlüpfen oder eigenständig Erziehungsberatung betreiben.

- Konsultieren Sie Fachdienste in Ihrer Einrichtung: Nehmen Sie Kontakt mit (Schul-)Psychologen oder vergleichbaren Spezialisten an Ihrer Arbeitsstelle auf, denn deren Umgang mit dem Kind ist am ehesten durch die Zustimmung der Erziehungsberechtigten zum Besuch der Einrichtung gedeckt. Dennoch ist es rechtlich zweifelhaft, ob selbst interne Experten über das für die Einrichtung Notwendige hinaus ohne Wissen und Billigung der Erziehungsberechtigten Daten erheben (z.B. systematische Beobachtung, psychologische Tests, etc.) oder gar das Kind "behandeln" dürfen.

- Nutzen Sie die Supervision: Halten Sie das Verhalten eines Kindes für dringend untersuchungsbedürftig, sind aber im Zweifel über den geeigneten Weg zu diesem Ziel, so besprechen Sie das in Supervision mit den dafür zuständigen Personen. Gibt es in Ihrer Einrichtung keine Supervision durch Außenstehende - was leider nicht nur in Schulen, sondern selbst in therapeutischen Heimen oft der Fall ist -, so fordern Sie die notwendige Begleitung Ihrer Arbeit durch Vorgesetzte ein. Im Klartext: Mischt ein Steppke Ihre Schulklasse auf und das Problem ist innerhalb der Klasse nicht zu lösen, muss die Schulleitung ran; ein kleiner "Vandale" im Kindergarten oder eine Jugendliche mit Tendenz zur Selbstverletzung sind keine Aufgabe allein für Gruppenerzieher und können innerhalb einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen meist nicht ohne erhebliche Nachteile für die anderen Gruppenmitglieder aufgefangen werden. Auch wenn viele Einrichtungen bzw. ihre Leitungen glauben, Supervision könne oder müsse man sich sparen: Supervision ist kein Notnagel scheiternder Pädagogik oder Therapie, sondern eine wichtige Voraussetzung für Professionalität.

- im Extremfall, wenn Sie keine andere Alternative sehen und/oder Gefahr im Verzug ist: Nehmen Sie Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt auf, nachdem Sie die Eltern über diesen Schritt informiert haben. Auch wenn Sie gegen den erklärten Willen der Eltern handeln, ist es wichtig, diese zunächst von Ihrer Entscheidung in Kenntnis zu setzen; machen Sie jedoch Ihren Entschluss nicht von der Reaktion der Eltern abhängig, um dem Vorwurf der "Erpressung" zu entgehen.

 

Therapeuten

 

Der kleine Taschentherapeut

Wer sich mit Psychologie beschäftigt hat, der hat gelernt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Diese wichtige Tatsache wird aber oft außer acht gelassen, und so bekommen wir es oft mit allen möglichen allgemeinen Erkenntnissen, Zahlenangaben und statistischen Durchschnittswerten zu tun, die für uns als Individuum keinerlei Aussagekraft haben. [...]

Ähnliches gilt für die Psychotherapie: Zu viele Therapeuten haben ihre Standardkur, die sie auf alle und jeden anwenden. Oft kann aber eine Behandlungsform, die für den einen hervorragend geeignet ist, für den anderen ausgesprochene Nachteile bergen.

Ein wirklich guter Therapeut schneidet die Behandlung auf Ihre besonderen Bedürfnisse zu und versucht Sie nicht ins Korsett seiner bevorzugten Methoden zu zwängen.

Unsere Devise lautet: Einen Durchschnittsmenschen gibt es nicht - jeder ist einzigartig.

Achten Sie darauf, dass ein Therapeut Ihre ganz individuellen Bedürfnisse sorgfältig mitbedenkt, wenn es zum Beispiel darum geht, was Sie essen, welche Medikamente Sie einnehmen, wieviel Schlaf und Erholung Sie sich gönnen, wieviel Bewegung Sie sich verschaffen oder welche Art von Sport Sie treiben sollen. Versuchen Sie, wenn Ihnen eine therapeutische Maßnahme nicht gut zu tun scheint, einen Experten hinzuzuziehen, der den Behandlungsplan genauer auf Sie zuschneiden kann.

Gehen Sie nicht einfach davon aus, dass ein bestimmtes Medikament, eine Vorgehensweise oder eine Behandlungsmethode das Richtige für Sie sein muss, weil alle anderen so viel davon halten.

Arnold & Clifford Lazarus
Der kleine Taschentherapeut
Klett-Cotta (1997) S.243f.

Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, ob das nicht ein bisschen anmaßend ist, dass man Ihnen rät. Sie sind Therapeut* - was immer diese Bezeichnung in Deutschland oder andernorts bedeutet - und selbst professionell mit der Diagnose und/oder Behandlung von auffälligem Verhalten befasst. Vielleicht finden Sie hier nichts, was Ihnen weiterhilft. Dann sind Sie vermutlich in ein gutes und stabil funktionierendes Netzwerk an eigenen Angeboten und abrufbaren fremden Hilfen eingebunden. Denn Therapie meint Dienen - Dienst und Dienstleistung. Auch wenn die Institutionalisierung von Therapieangeboten sowie die Einbindung der Therapeuten in eine Vielzahl an Tarifen und Gesetzen es bisweilen vergessen lassen: Es geht um Hilfe für andere, nicht um ideologischen Therapeutenstreit und die eigene Praxis. [* Arzt, Heilkundiger, im 18. Jahrhundert aus dem griech. therapeutes = Diener, Pfleger abgeleitet]

Die Qualität eines Therapeuten - gleich ob Arzt, Psychologe oder Psychotherapeut - hängt von zwei Fähigkeiten ab, die oft nicht gemeinsam gegeben sind: Erstens vom Wissen und Können in der Therapie; zweitens vom Wissen, was man nicht kann, und dem Willen, sich und den Klienten durch andere helfen zu lassen. Während die Leistungen und Erfolge vieler Therapeuten in ihrer täglichen Arbeit beachtlich sind, ist das Verharren in etablierten Denk- und Behandlungsmustern erschreckend. Nicht wenige verhaltensauffällige Kinder werden ungenügend therapiert, weil empirische Kenntnisse ignoriert und selbst die eigenen Erfahrungen der Therapeuten durch Schuldenken korrumpiert werden. Vorbehalte gegen bestimmte Professionen oder ihre Mittel führen oft zu langen und bitteren Störungsverläufen, weil unwirksame Behandlungsformen über Gebühr angewandt und alternative Konzepte aufgrund von Unkenntnis und Vorurteilen nicht erwogen werden.

Der Arzt muss wissen, was die Psychodiagnostik und Psychotherapie (auch jenseits der eingeschränkten Facharztausbildung) vermag, und umgekehrt braucht Psychotherapie ein Bewusstsein ihrer Grenzen gegenüber medizinischem Wissen und medikamentöser Therapie. Bei der gleichen Störung sind oft mehrere Therapien hilfreich, doch sie haben angesichts beschränkter Zeit und Mittel nicht die gleiche Berechtigung. Neben lokaler Verfügbarkeit, Wirksamkeit, Verträglichkeit und Kosten wird ein entscheidendes Kriterium therapeutischen Handelns oft vergessen: Einfachheit. Es ist keine moralische Frage an den Therapeuten, sondern das Recht des Klienten und bisweilen auch seiner Umwelt, die einfachste Behandlung der Störung zu wählen. Für jede Form von Therapie an und mit Kindern, ganz gleich ob Schneiden oder Sprechen, Pillen oder Psychotherapie gilt: Zu Wirksamkeit, Dauer, Risiken und Nebenwirkungen fragen sie einen Arzt, Psychologen, Psychotherapeuten, sich selbst - und vor allem das Kind!

Was können Therapeuten tun, die Sinn und Zweck der Behandlung eines Kindes hinterfragen wollen - und wo findet man Hilfe bei offenen Fragen?

 

 

Meine Langzeittherapien mit Zoe und Christine und, mit Unterbrechungen, auch mit Solinis Expatient Thorny waren planlose, improvisierte Ausflüge mit seltenen vielversprechenden Momenten gewesen, die dann doch wieder folgenlos blieben. Zoe war wieder in Toshiba, zur Entgiftung, und Christine war zwar zurückgekommen, aber nur um über Bozers Heilerisierung zu sprechen. Wie, fragte ich mich, funktioniert eine Therapie? Wie geht es zu, wenn sich Menschen verändern? Tun sie es überhaupt? Funktioniert eine Therapie überhaupt?

Samuel Shem
Mount Misery
Knaur (2000) S.311

- Evaluieren Sie Ihre Therapien. Geht es dem Klienten und seiner Umwelt in genau dem Bereich besser, dessenthalben Sie um Ihre Hilfe gebeten wurden? Ist diese Verbesserung nach wissenschaftlicher Vernunft und gesundem Menschenverstand tatsächlich auf die gewählte Methode und die durchgeführte Intervention zurückzuführen?

Für einen guten Handwerker ist es selbstverständlich, dass er seinen Kunden keinen Pfusch hinterlässt. Therapeuten sind in diesen Dingen nicht selten großzügiger. Allzu leicht werden mangelnde Effekte der Therapie für die Lebensqualität der Klienten geleugnet, durch unwesentliche Veränderungen verdeckt oder nicht zu verantwortenden Faktoren in der Umwelt des Klienten angelastet. Wenn Sie Therapie ernst nehmen, dann treten Sie an, Menschen in den Situationen zu helfen, in welchen diese sich Ihnen vorstellen. Verhindern Umstände bei einem Klienten den Therapieerfolg, ist die gewählte Therapie für diesen Menschen unter diesen Umständen nicht geeignet. Therapieformen, die das auffällige und problematische Verhalten von Kindern beeinflussen sollen, nach spätestens einem Jahr jedoch keine Verbesserung des in Frage stehenden Verhaltens bewirken, sind für Kinder und Jugendliche untauglich! Jeder vermeintliche Effekt einer psychotherapeutischen Langzeitbehandlung (z.B. durch jahrelange Kinderanalyse) ist ebenso gut durch reifungs- und entwicklungsbedingte Prozesse im Leben des Kindes zu erklären. Für praktisch alle psychotherapeutischen Interventionen im Kindes- und Jugendalter steht bis heute der Beweis aus, dass sie langfristig gesünder sind als keine Behandlung.

- Behandeln Sie nur in Bereichen, wo Sie auf einem verantwortbaren Stand des Wissens sind. Aus- und Fortbildung werden in unserem Gesundheitssystem - aber nicht nur dort! - noch immer viel zu wenig geachtet und betrieben. Man kann nicht für alle Krankheiten und jede Personengruppe Experte sein. Das Wissen über Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen wandelt sich rasch - und nirgendwo schneller als auf dem Feld der Kinder- und Jugendpsychologie und -psychiatrie. Vor allem aus dem erweiterten Wissen um den Zusammenhang von Anlage, Umwelt und Entwicklung können vielfach bessere Therapien abgeleitet werden. Medizin und Psychotherapie ignorieren diese Fakten trotz breiter Basis an Befunden oft viele Jahre, bis sich statt Verharren in alten Behandlungsschemata oder esoterischen Alternativen sinnvolle neue Standards in der Behandlung von Kindern durchsetzen.

- Ziehen Sie konsiliarisch Hilfen zu Rat. Viele die Psyche betreffenden Veränderungen können nicht ohne medizinisches Wissen verstanden und diagnostiziert werden. 95 Prozent der Ärzte und 90 Prozent der Psychotherapeuten haben andererseits wenig psychologische Fertigkeiten für Interventionen in Familien -  eine Grundvoraussetzung der Behandlung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten. Gespräche mit einem Kind, mit einem Elternteil oder Paar, mit Geschwistern oder einer ganzen Familie zu führen sind verschiedene Anforderungen, die bisweilen recht unterschiedliche Kompetenzen verlangen. Das Gespür für die vielen Ebenen von Kommunikation in Familien muss man erwerben und trainieren, vom Erstkontakt bis zum zur Verabschiedung aus der Therapie. Es ist nicht weniger zu lernendes Wissen als Fakten über den Stoffwechsel es sind. Der Austausch mit Fachleuten auf anderem Gebiet ist daher in aller Regel durchaus ein Gewinn.

- Arbeiten Sie niemals gegen die Familie. Wer mit verhaltensauffälligen Kinder arbeitet, der weiß, dass die hartnäckigsten Störungen jene sind, die im Umfeld ambivalenter Beziehungen gedeihen. Dabei ist es gleich, ob allein diese Beziehungen die Störung hervorgerufen haben (eher selten der Fall) oder aber die Fehlentwicklung auf Grundlage einer primären Disposition des Kindes erfolgte. Gegen die Familie zu arbeiten heißt, Beziehungen zu zerstören, statt den in ihnen lebenden Menschen zu helfen. Therapeuten sind nicht die Mütter oder Väter der Kinder, die sie behandeln. Sie haben daher kein Recht, sich zwischen Eltern und Kind zu stellen. Auf ein Kind, dem durch die Entmachtung der Eltern geholfen wird - auch als Schutz vor Vernachlässigung oder Misshandlung - kommen zehn Kinder, die im Dilemma von Liebe und Verrat verzweifeln. Kinder sind von Natur aus loyaler als Erwachsene; sie ertragen Beziehungen oder zerstören sie. Leutseligkeit oder Ablehnung in einer therapeutischen Beziehung sind nur ein matter Abglanz von Liebe und Hass in Familien - und sie tragen nicht einen Bruchteil der Strecke, die Eltern und Kinder gemeinsam zurücklegen müssen.

 

Lassen Sie sich nicht stören!

 

Ich hatte nie zuvor Eltern kennen gelernt, die so rasch bei der Wurzel ihres Lebens angekommen waren, beim Kern ihres eigenen - und wahrscheinlich auch ihres Sohnes - Unglück. Der Verlust, den diese Mutter beschrieb, ist so eng in das Familienleben verwoben, dass er selten ausgesprochen wird, selbst dann nicht, wenn er gerade geschieht. Es ist ein Verlust, der wohl nur durch den realen Verlust eines Kindes übertroffen wird. Die Beziehung, die sie verlor, ist die Lebendigkeit, die jeden Austausch zwischen Eltern und ihrem Kind beflügelt und allem, was Eltern für ihre Familien tun, die Kraft verleiht. Man sagt, dass der Tod unserer Eltern uns der Vergangenheit beraubt.  Ein Kind zu verlieren bedeutet aber, die Zukunft zu verlieren. Wie wahr erschien mir das für diese Mutter, die spürte, wie die Bindung zwischen ihr und ihrem Kind schwand. Sie konnte sich eine Zukunft ohne die Liebe und Freundschaft ihres Kindes nicht vorstellen, das sie doch einst so genau kannte. [...] 

Sie lesen dies vielleicht gerade, weil auch Sie spüren, dass Sie Ihr Kind verlieren. Ihr Kind hat ADHD - und Sie haben Ihr Bestes gegeben, ihm und der Familie zu helfen, sich an diesen Umstand anzupassen. Aber es klappt einfach nicht...

Russell A. Barkley
Taking Charge of ADHD
New York (2000) S.3
übersetzt von J. Streif

Egal, ob Sie Mutter, Vater, Lehrer oder Therapeut eines verhaltensauffälligen Kindes sind - wichtig ist Ihr eigenes Empfinden im Umgang mit dem Kind. Verhalten ist eine spürbare Veränderung, die sich nicht aus sich selbst heraus erklären kann. Deshalb ist Verhalten nur in der Gemeinschaft verstehbar. Manche Psychologen und Pädagogen sagen, das gestörte Verhalten eines Kindes sei eine Form der Kommunikation, letztlich stets ein Hilferuf. Doch wenn dem so wäre, müssten wir allen Störungen soziale Gründe und/oder Abhilfen unterstellen. In vielen Fällen ist die Verhaltensauffälligkeit jedoch gerade der Beginn vom Ende der Kommunikation. Ja vielleicht ist es sogar ein Kernsymptom mancher kindlichen Verhaltensstörung, dass das Sprechen in der Familie zunehmend misslingt, dass die Freude aneinander schwindet und die Gemeinschaft mit der Krankheit des Kindes zu zerfallen beginnt.

Der amerikanische Neuropsychologe und Experte für ADHD, Russell A. Barkley, hat das als prägendes Erlebnis mit der Mutter eines hyperaktiven Kindes geschildert. Sie war wie viele in seine Sprechstunde gekommen und er erwartete zunächst die übliche Liste an Klagen über das Kind. Die Mutter aber sagte nur: "I'm losing my child." Barkley verstand nicht. Sie erklärte ihm, was sie erlebte: dass ihr Sohn sich von ihr abwendete, sie mied, von seinem Erleben ausschloss; dass das Unglück miteinander die Freude beider auffraß, weil sie unfähig waren, sich in Streit und Not des Alltags noch zu lieben.

Vergessen Sie die Handbücher und Ratgeber, die Ihnen Listen von Symptomen, Geschichten von Auffälligkeit und Ausgrenzung präsentieren! Diese Schemata sind für Fachleute, die das Kind nicht kennen. Für Sie als Eltern beginnt die Störung des Kindes, mehr noch: ihres eigenen Lebens in der Familie, wenn sie das Kind nicht länger lieben können, wie es ist. Für Sie als Lehrer beginnt die Störung des Kindes, wenn der Umgang mit ihm Ihre Freude am Unterrichten zerstört. Für Sie als Therapeuten beginnt die Störung des Kindes, wenn Sie spüren, dass Ihre Arbeit weder Eltern noch Lehrern hilft, das Kind anzunehmen, das an ihrer Anerkennung und Erziehung wachsen soll.

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