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       Sehr geehrter
      Herr Streif! 
      Bitte
      entschuldigen Sie, dass ich auf Ihre Anfrage bezüglich eines Interviews für
      Ihre Seminararbeit nur brieflich antworten kann. Leider ist es mir aus
      zeitlichen Gründen nicht möglich, einen der von Ihnen vorgeschlagenen
      Termine wahrzunehmen. Ich hoffe allerdings, dass meine schriftliche
      Auskunft Ihnen eine Hilfe ist und stehe für telefonische Rückfragen
      gerne zur Verfügung. In der Anlage finden Sie zudem einige Protokolle vom
      Sorgerechtsverfahren, die Niklas betreffen. Vielleicht sind sie Ihnen eine
      nützliche Ergänzung. 
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    Sie
      fragen nach meinem Verhältnis zu meinen Kindern. So unterschiedlich, wie
      beide sind, so unterschiedlich ist auch meine Beziehung zu ihnen. Martin
      ist seinem Wesen nach ruhig, konzentriert und vernünftig. Niklas dagegen
      war bereits während der Schwangerschaft meiner Frau ein unruhiges Kind,
      so dass wir beide und die Ärzte von der einfachen Geburt damals fast überrascht
      waren. Es stellten sich auch bald allerlei Schwierigkeiten ein, er aß
      nicht, schrie häufig und durchlebte eine ungewöhnlich lange und starke
      Trotzphase. Ich muss gestehen, dass ich das meiste aus dieser Zeit von den
      Berichten meiner geschiedenen Frau kenne, da ich zeitlich durch die Arbeit
      sehr gebunden war. Ich selbst habe ihn lange Zeit sehr interessiert und
      bemüht erlebt. Er hatte allerdings immer etwas Unkonventionelles an sich,
      zeigte auch bei Gehorsam kein Verständnis für Ordnung und Regeln. Er ist
      zweifellos intelligent, sehr kreativ, doch leider auch in destruktiver
      Hinsicht. Seine Verhaltensprobleme in der Schule und die Ausbrüche
      zuhause sind nun nicht zu leugnen. Hier muss ich die Erklärung den
      Experten überlassen, denn ich verstehe diese Entwicklung nicht. Meine
      Beziehung zu Niklas hat das natürlich sehr beeinträchtigt.
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    | Ich
      gehe davon aus, dass meine Frau Sie über den eigentlichen Scheidungsauslöser
      informiert hat. Es ist dies sicher nicht der einzige Grund für unsere
      Trennung gewesen, doch konnte sie mir nicht verzeihen, dass ich Niklas am
      Abend seines ersten Wutanfalls schlagen wollte. Ich habe nie Gewalt gegen
      meine Kinder gebraucht und schäme mich für meinen eigenen
      Kontrollverlust sehr. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass mein
      Verständnis und meine Nachsicht Niklas nicht erreichten. Ich wertete sein
      Verhalten damals - wohl fälschlich - als Trotz und Undank. Aus meiner
      eigenen Familie kannte ich so etwas nicht. Es war mir als Kind stets
      undenkbar erschienen, mich gegen meinen Vater aufzulehnen. Dabei wurde ich
      viel strenger erzogen als Niklas, was ich meinen Eltern im Ergebnis nicht
      vorwerfen kann. Natürlich habe ich in der Folgezeit eingesehen, dass
      Niklas Verhalten einer Krankheit entspringt. Die Einsicht konnte meine
      Frau allerdings nicht dazu bewegen, die Scheidungspläne aufzugeben. Ich
      sehe in meinem schwierigen Verhältnis zu Niklas sicher einen Grund für
      unsere gescheiterte Ehe. | 
    
       Im
      Waisenhaus des Ritters Paulet fanden 
      jeden Morgen Gerichtssitzungen statt: 
      »Wir fanden alle Schüler in vollkommener 
      Schlachtordnung unbeweglich und 
      stillschweigend vor. 
      Der Major, ein junger Edelmann 
      von 16 Jahren, war aus dem Glied getreten, 
      das Schwert in der Hand; 
      auf seinen Befehl setzte sich der Trupp 
      im Doppelschritt in Bewegung, 
      um einen Kreis zu bilden. 
      Der Rat versammelte sich in der Mitte; 
      jeder Offizier erstattete für die letzten 
      24 Stunden Bericht für seinen Trupp. 
      Die Angeklagten konnten sich verteidigen; 
      man vernahm die Zeugen; man beriet 
      und, nachdem über die Urteile Einvernehmen 
      erzielt worden war, verkündete der Major 
      mit lauter Stimme die Zahl der Schuldigen, 
      die Art der Delikte und die angeordneten Strafen 
      Der Trupp marschierte in größter Ordnung ab.« 
      P.
      de Rochemont (1788) 
      (Journal de Genève, 5.1)
       Michel
      Foucault 
      Überwachen und Strafen 
      Suhrkamp (1977) S.229f.  | 
   
  
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       Ich bin mir nicht sicher, ob der Weg, den meine Frau nun eingeschlagen
      hat, der richtige ist. Ich unterstütze sie in ihren Entscheidungen und
      stelle mich der Elternarbeit des Heimes. Realistisch betrachtet führte
      die jetzige Lösung mit Scheidung und Niklas Heimunterbringung aber zu
      einer Stigmatisierung der Familienmitglieder. Dies mag nicht für alle
      sozialen Schichten und alle Zeiten zutreffen, doch uns hat das Geschehen
      der letzten Jahre sehr verändert. Meine geschiedene Frau zieht durch ihre
      Berufstätigkeit vielleicht den größten Gewinn aus der neuen Situation.
      Ich gestehe freimütig, dass ich an diesbezügliche Wünsche ihrerseits
      nie dachte. Wirtschaftlich bestand ja auch keinerlei Anlass. Selbst jetzt,
      nach der Scheidung, müsste sie nicht arbeiten, was unter Umständen
      Martin zugute kommen würde. Ihn sehe ich als den eigentlich Leidtragenden
      der Familienauflösung. Ich glaube, seine Mutter überschätzt seine Stärke,
      - sie verlässt sich zu sehr auf ihn. Vielleicht bin ich auch nur durch
      Niklas psychologisiert und übersensibilisiert. Ich hatte zuvor nie
      geglaubt, einmal ein verhaltensgestörtes Kind zu haben!  | 
   
  
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       Ihre zweite Frage nach meinem heutigen Befinden lässt sich kaum
      leichter beantworten. Es ist in erster Linie durch ein Gefühl großer
      Ohnmacht gekennzeichnet. Welchen Einfluss habe ich noch auf das Schicksal
      meiner Kinder? Was geschehen ist, tut mir sehr leid! Neben allen erkannten
      Konditionen wie Niklas Krankheit oder der eigenen Familiengeschichte trage
      ich doch eine große Schuld. Ich frage mich täglich, was ich in meiner
      Ehe, mit meinen Kindern hätte anders machen müssen, um sie nicht zu
      verlieren. Für kämpferische Auflehnung finde ich allerdings keine Zeit.
      Unglücklicherweise zeigen die Vorwürfe meiner Frau gegen die
      Vereinnahmung unserer Familie durch meine Arbeit und meine Eltern späte
      Wirkung. Als sie noch sinnvoll waren, schenkte ich ihnen keine Beachtung.
      Jetzt fühle ich mehr und mehr, wie ich meinen Eltern einen Teil der
      Schuld aufbürden möchte. Dazu scheinen mich nicht zuletzt die
      Psychologen einzuladen. Der partnerschaftliche Umgang mit dem Heimpersonal
      kann mir meine Schuldgefühle aber nicht nehmen. Gerade ihre
      Professionalität erschreckt und beschämt mich. Ich bin es nicht gewohnt,
      zu verlieren. Niklas gestörte Entwicklung kratzt an meinem Selbstbewusstsein.
      Ich habe mich deshalb ganz dem Beruf zugewandt.  | 
     
        
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       Meine Frau hatte sich bereits früher gelegentlich über meine Gefühllosigkeit
      beklagt, - so nannte sie es. Der Vorwurf hatte mich immer sehr getroffen,
      denn ich sehe mich selbst nicht als gefühllos. Doch wenn ich zurückdenke
      an meine Kinderzeit und später, dann erinnere ich mich an ein ständiges
      Gefühl der Einsamkeit. Meine Eltern waren für mich und meine Schwester
      stets mit viel Verständnis da. Es galt ein strenger Familienkodex, der
      niemanden aus seinen Pflichten entließ und größere Fehler im Leben
      verunmöglichte. Oft wollte ich aber kein Verständnis, sondern
      Widerstand, Auseinandersetzung, offenen Konflikt. Ich bin kein
      Schriftsteller, weshalb ich es etwas hölzern-poetisch formuliere: Ich
      wollte die Liebe hinter der Liebenswürdigkeit. Ich wollte keinen Handel
      'Gehorsam um Zuneigung'. Weil ich über diese Grenze nicht hinweggekommen
      bin, blieb immer ein letztes bisschen Misstrauen gegen meine Eltern, gegen
      ihre Absichten und ihre Zuverlässigkeit. Dieses Misstrauen hat mich kühl
      und vorsichtig werden lassen. Niklas hat die Grenze überschritten. Ihn
      jetzt zu lieben, jetzt zu halten, sehe ich als die eigentliche
      Herausforderung der gegebenen Situation. Ich will versuchen, sein
      Vertrauen zurückzugewinnen! 
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    Vielleicht habe ich Ihnen mit diesen Zeilen
      meine Sicht der Dinge näher bringen können. Bitte entschuldigen Sie
      nochmals, dass ich Ihr freundliches Gesprächsangebot ausschlagen musste.
      Für Ihre Seminararbeit und Ihr weiteres Studium wünsche ich Ihnen viel
      Erfolg.
       Ihr Thomas S. 
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