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    | Es
      fällt mir nicht leicht, Ihre Fragen zu beantworten. Können Sie sich
      vorstellen, wie viele Fragen ich in den letzten Monaten und Jahren
      beantwortet habe? Von der Erziehungsberatung angefangen, Ärzte,
      Psychologen, Ämter, bis zu Scheidungsanwalt und Gericht! Ich bin müde
      geworden, das überrascht sie nicht. Dabei habe ich mit meinen
      Fragen begonnen und auf diese Antworten gesucht. Sie hatten alle keinen
      Bestand, sind ihrerseits hinterfragt worden auf der Suche nach
      irgendwelchen Gründen und Ursachen. Was ich getan habe, bereue ich nicht,
      denn die Fragen wären irgendwann gestellt worden. Von Niklas, von Martin,
      von mir selbst. Und mit der Schule und der Situation zuhause waren wir
      doch zu einem Endpunkt gekommen.
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    Vielleicht
      hätte ich mich von meinem Mann nicht trennen sollen, das war der Anfang
      vom Ende der Familie. Nach außen hin hat die Scheidung viel schlimmer
      gewirkt als auf uns. Wir sind doch so glücklich, so vorbildlich gewesen! Vorbildlich?!
      Das Wort hat einen schlechten Beigeschmack. Ich war doch die ganze Zeit
      allein! Wer blieb mir denn zur Orientierung? Diese ganze Bürgerlichkeit
      ist ein positiver Selbstvollzug. Man kann nicht nicht dabei sein.
      Wenn man nicht in der Gesellschaft ist, ist man nicht. Ich
      will gar nicht leugnen, dass mir das Leben Spaß gemacht hat, dass ich die
      Parties und Konzerte und Veranstaltungen und unsere gemeinsamen Freunde
      und Bekannten sehr schätzte. Eigentlich noch schätze, denn ich habe ja
      noch viele Kontakte. Und meinen Mann sehe ich durch die ganze Elternarbeit
      des Heimes fast öfter als früher. Zumindest hat er ein schlechtes
      Gewissen und bemüht sich um Niklas.
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    | Ich
      arbeite, das ist vielleicht der größte Fortschritt überhaupt. Ich hatte
      viel Spaß am Studium. Aber nach den Prüfungen und der zeitgleichen
      Schwangerschaft mit Martin war ich über die reine Mutterrolle nicht unglücklich.
      Es bestand ja auch keine Notwendigkeit, zu arbeiten. Die Eltern meines
      Mannes sind immer sehr großzügig gewesen, auf eine nette Weise, nicht
      aufdringlich. Vielleicht ist ihr Einfluss auf unsere Familie deshalb so
      groß geworden, weil wir es zunächst gar nicht beachtet hatten. Mein Mann
      sollte ja von allem Anfang an in die Kanzlei seines Vaters eintreten, und
      er ist auch ein guter Anwalt und zufrieden in seinem Beruf. Wahrscheinlich
      wäre diese Abhängigkeit nie ein Problem geworden, hätte Niklas nicht
      unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zumindest meine Aufmerksamkeit,
      mit der ich dann alleine dastand. Die Souveränität meiner
      Schwiegereltern ist nicht zu bestreiten. Sie haben alles bis zuletzt ganz
      unverkrampft gesehen. Und sie waren schließlich am stärksten gegen die
      Scheidung. | 
    
       Eine
      Mutter, die in ihrem Kinde den 
      Sinn ihres eigenen Lebens finden will, 
      ein Vater, der in seinem Sohne nur 
      seine Fortsetzung, seine Erweiterung sieht, 
      Eltern, die in dem Kinde die Bestätigung 
      ihrer eigenen Größe suchen 
      (den ewig dankbaren Lobpreiser und Sklaven), 
      Erzieher, für die Zöglinge nichts anderes 
      als ein Material sind, sozusagen Ton 
      in des Töpfers Hand, 
      Erzieher, die jede Niederlage in ihrem 
      Erwachsenenleben an den Kindern rächen 
      - sie alle sind, ob sie es nun wissen oder nicht, 
      Verderber einer Generation, 
      die ebenso schlechte Erzieher 
      hervorbringen muss, 
      wie sie es selbst sind. 
      Manès
      Sperber 
      Individuum und Gesellschaft (1934) 
      dtv (1987) S.320 
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       Meine
      Eltern sind eher zurückhaltend. Ein bisschen nervös vielleicht, wie ich.
      Sie waren damals sehr für die Ehe gewesen, aber sie verbanden mit ihr
      keine großen Pläne. Sie suchten immer einen Kompromiss zwischen
      Sicherheit und Bescheidenheit. Ein bisschen noch die armen Kriegskinder:
      Nur keinen großen Hunger haben, sonst wird man vielleicht nicht satt! Die
      Eltern meines Mannes sind gut durch die Kriege gekommen, nicht reich, aber
      ohne Not. Ich weiß nicht, ob das heute wirklich noch etwas ausmacht, aber
      seine Familie pflegte die großen Entwürfe, die Spekulationen, die
      verzehrende Liebe, das Aufgehen in der Arbeit. Niklas hat die Leidenschaft
      seines Vaters, aber meine Angst. Vielleicht ist das sein Unglück.  | 
   
  
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       Im
      Heim haben sie ziemlich zu kämpfen mit ihm. Dort dreht er fast noch mehr
      auf wie zuhause. Am Anfang war mir das peinlich, wenn die Erzieher von
      seinen Ausbrüchen berichteten. Mittlerweile denke ich, dass es so sein muss,
      dass Niklas ja nicht dort wäre, wenn er normal wäre. Es tut mir fast
      gut, dass er sich nicht verändert hat. Es bestätigt mich in meinem Entschluss.
      Schlimmer darf es allerdings nicht werden! Was für eine Zukunft steht ihm
      so wohl bevor? Aber ich muss wenigstens nicht mehr alles erklären. Er
      spricht für sich, in seiner Sprache. Ich habe ihn nie wirklich
      verstanden, aber die dort sind ja alle Profis. Wissen Sie, all die
      Vokabeln, mit denen die Fachleute ihre Arbeit machen, die Theorien,
      Konzepte, wissenschaftlichen Legitimationen. In meinem Beruf gibt es auch
      eine Fachsprache, aber wir sprechen von Substanzen und chemischen
      Zusammenhängen. Die professionellen Erzieher, der Heimpsychologe, die
      sprechen doch von Menschen, die sprechen von meinem Kind.  | 
     
        
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       Ich
      will nicht, dass mein Kind funktioniert! Ich will Niklas nicht
      isolieren, aber warum sollte ich wollen, dass er ein Leben wie meines führt?
      Das Erschreckendste ist für mich rückblickend, dass bei mir immer alles
      so reibungslos ging. Natürlich hatte ich auch Schwierigkeiten mit meinen
      Eltern oder auch mal mit der Schule. Aber nie wie Niklas. Meine Eltern
      zeigten immer ein ängstlich-liebevolles Verständnis. Ich konnte ihnen
      nicht entkommen. Ich habe sie nie so ausgeschlossen wie Niklas mich. Ich
      konnte ihnen keine Niederlage bereiten. Niklas dagegen ist meine
      Niederlage, er ist das Hindernis, das irgendwann kommen musste. In meinem
      tiefsten Innern habe ich auf ihn gewartet. Über alle Zeit und alle Gefühle
      hinweg ist das Leben doch gerecht. Es war wie ein schlechtes Gewissen für
      mein ganzes Glück. Jetzt hat mich meine Schuld eingeholt. 
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    Diese
      Experten sagen, ich dürfte mir das nicht einreden. Mein Mann sagt es,
      selbst Martin sieht es so. Er tröstet mich, wenn ich mich nach Niklas
      sehne, - manchmal ist mir das fast unheimlich, er ist doch auch noch ein
      Kind, und ich weiß auch, dass es nicht in Ordnung ist. Ich sehe ja ein, dass
      ich für Niklas Temperament und seine ganze Konstitution nichts kann. Aber
      das Heim, die Scheidung, dass es soweit kommen musste? Alles könnte noch
      so sehr Schicksal sein oder nach einem Unfall aussehen: man fragt sich
      dennoch, wo man in den entscheidenden Stunden war; ob man nicht doch eine
      Chance verpasst hat; ob die Entscheidungen nicht doch übereilt waren und
      man sich selbst in eine ausweglose Situation gebracht hat. Wenn die ganze
      elende Lage auch nicht meine Schuld ist: Ich habe uns allen den Stempel
      aufgedrückt: mir, meinem Mann, meinen Kindern, - vor allen Niklas. Das
      wissen zu müssen, tut sehr weh.
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